Trotzphase


"Alle Revolutionen haben bisher nur eines bewiesen, nämlich, dass sich vieles ändern lässt, bloß nicht die Menschen" (Karl Marx)


Alles rennt los. Zigtausendfaches Sohlengetrappel. Staub. Ich hab den Startschuss gar nicht gehört! Nur dass einer neben mir, etwas dick und dümmlich, aber voll motiviert, "Revolution!!!" geblökt hat. Seine Stimmbänder liegen noch da, wo er sie sich rausgebrüllt hat, daneben sein Gehirn. Alles ist weit vor mir, wieder mal. Und wieder mal bin ich hinten dran. Zu langsam. Oder zu blöde für all den Aufruhr. Mir fehlts da an Begeisterung. Mein Arzt sagt das ist nicht bedenklich. Es macht nur einsam, manchmal.


Ich hab ja auch nichts gegen nötige Veränderung, nur gegen die Hysterie, weil da immer jemand leiden wird, weil das immer Opfer gibt, die vielleicht vermeidbar wären und weil sie uns einander entfremdet. Ich bin für Besonnenheit. Für ruhige Kraft. Das muss doch drin sein denke ich. Ich weiss schon, dass ich nicht so ganz dem Zeitgeist entspreche, mit meiner doch sehr verhaltenen Freude auf "das Neue". Ich bin da eben nicht massentauglich, bin zu sehr Individuum. Ist ja auch alles schön und gut, wenn man sich da sammelt und noch dazu das Wetter mitspielt. Ich habs nur nicht so mit Events, ganz egal ob es dabei um Revolution, Krieg oder eine Kaufhauseröffnung geht. Als Mitläufer tauge ich nichts - zu langsam eben und viel zu kritisch und überhaupt.


Das muss an meiner Kindheit liegen, die nicht traumatisch war, sondern eigentlich ganz ok. Ich war damals schon mehr für mich und so eben ans "massenhafte" schlecht angepasst. Ich war mehr im Wald. Am Bach. Erdriechen. Geisterflüstern. Baumreden. Wolkenwissen. Ich musste fast den Kindergarten wiederholen, weil ich bei den gängigen Sozialisierungsversuchen nicht so wirklich mitgezogen hab. Mich hat das bemühte Bespassen damals schon enttäuscht und gewundert zu gleichen Teilen. Mir war recht schnell klar, dass da beim Kasperlethater in den Puppen Hände waren, die wiederum zu den verborgenen Nonnen (ja es war eine Nonnenhort) gehörten. Das war ja alles auch ganz lieb und gut gemeint, aber mir war es zu viel an schlechtem Theater. Mir war das zu laut und wenn Nonnen ganz im Schauspiel aufgehen, dann neigen sie zum Kreischen. Zudem war mir nicht ganz klar, warum das Krokodil immer eines auf die Rübe bekommen musste. Ich war sozusagen Krokosymphatisant, also hatte schon damals mehr für Randgruppen bzw. Einzelphänomene über, als für die bunte, breite Masse.


Mag sein dass mich das geprägt hat, das mit dem Kasperle und dem Krokodil. Theater blieb mir so stehts Theater und nicht mehr, unabhängig davon ob das Punlikum am Stück interaktiv mitzuwirken hatte, oder nicht. Die Nonnen aber meinten es ja gut mit einem und so war das Kasperletheater, samt traumatisiertem Kroko, eben gut gemeinter Zwang. Es gab da auch kein nonnenseitiges Alternativprogramm, also gab es meinerseits fein dosierten Trotz und später, als Erwachsener, ebenso trotzige Verweigerung jeder generellen Bespassung auf Kasperleniveao.


So bin ich etwas trotzig geworden, vor allem wenn es hiess: "Du musst". Und diesen Trotz, samt einem guten Auge für schlechte Inszenierungen und Handpuppen, den habe ich mir erhalten - und darüber bin ich froh! Ich bin so halt auch etwas zur Spassbremse geworden. Nicht dass ich keine Freude an diesem oder jenem hätte, oder dass ich keinen guten Spass verstünde - aber wenn Event Gleichschaltung und strammes Anziehen der Denkbremse meint, dann bin ich weg. Ich tue was das arme Krokodil nicht kann - ich mache nicht mit, bzw. mich vom Acker und das mit ordentlich Tempo.


Zudem überträgt sich oft das was da geboten wird, unglaublich leicht auf die Bühne besagten Kasperletheaters. Und mal ganz im Ernst: Da ist kaum ein Unterschied zu finden! Die wirklichen Akteure und Strippenzieher haben unsichtbar für die kreischende Zuseherschaft, Finger und Hände im Hinterteil der sichtbaren Figuren. Und diese, reduziert auf billige Feinbilder und Heldegestalten, liefern sich den immergleichen, stupiden Kampf um Macht und Sieg und Position und Geld. Das Krokodil hat am Ende immer die Arschkarte gezogen, ebenso der Räuber. Gewonnen hat der Polizist in Tateinheit mit dem Kasperle, der immer ein klein wenig schlauer und verschlagener oder opportunistischer ist, als der ganze Rest, den er eigentlich ständig an der Nase herumführt (wofür er ja auch ausgiebig beklatscht wird) Das zieht sich durch, durch die Geschichte. Auch heute, eben jetzt, da alles rennt und klatscht und tobt und die Besonnenheit im Staub der trampelnden Massen erstmal auf der Strecke bleibt. Doch keine Angst. Später am Tag wird man nach ihr suchen, nach der Besonnenheit. Man wird sie abklopfen und vom Dreck befreien und wie ein ganz neues Heilmittel präsentieren und sich feiern lassen ob dieser Entdeckung!


Ich bin in meiner Trotzphase. Nur falls sich jemand fragt oder wundert, warum von mir kein Jubel schallt. Ich bin in meiner Trotzphase und verweigere mich dem Massenevent. Ich rufe zu keiner "Revolution" auf und verkünde nicht das Herannahen einer "neuen Freiheit", weil das ganz heilige Worte sind, die schwer wiegen und viel meinen und die man nicht leichtfertig gebrauchen sollte. Ich bin in meiner Trotzphase, weil ich das Geräusch nicht mag, wenn das Krokodil eins auf den Deckel bekommt und weil ich den kreischenden Kasperle nicht ertragen kann. Ich mag diese gelackten Puppen nicht und noch weniger mag ich die unsichtbaren Hände in ihnen. Ich mag die Hysterie nicht, weil sie nichts Gutes bringt. Ich mag das falsche Spiel nicht. Und ich finde es bedenklich, wenn der Zweck die Mittel zu heiligen beginnt!


Ich erinner mich an eine der Nonnen, die damals zu mir kam. Ich sass ganz hinten am Boden und war mit dem Teppichmuster beschäftigt, das weiss ich noch genau. Sie kam zu mir, ganz schwarz und weiss und sie roch wie ein offener Wäscheschrank. Ob ich denn den Kasperle nicht sehen mag? Das hat sie mich gefragt. Und ich hab den Kopf geschüttelt und gesagt: "Nein, in dem ist nur eine fremde Hand!" Da hat sie nichts mehr gesagt, nur noch mehr nach Wäscheschrank hat sie gerochen und ist leise gegangen. Das Spiel war entlarvt.


Ich bin da geblieben. Und da bin ich heute noch: Abseits der grossen Bühnen. Abseits der schlechten Stücke. Ganz hinten. Da hat man einen guten Blick auf die Kulissen, die Figuren und auf Jene, die sie bewegen, ganz so wie es ihnen nützt. Da läuft man auch nicht Gefahr zu vergessen, dass das alles ganz grosses Theater ist.


herzlichst

Georg