Abgründe


Manchmal steht man vor einem Abgrund. Schockstarre. Panik. Kein Schritt nach vorne scheint und ist mehr möglich. Die Angst vor dem Fall, mehr noch vor dem Aufprall dort unten am Grund, ist lähmend. Also warten. Dann das Warten darauf, dass der Abgrund sich irgendwie schliesst, was er von Natur aus natürlich nicht und nie tun wird. Oder aber, der Rückschritt, also zurück zum Ausgangspunkt, mit der wagen Hoffnung im geistigen Gepäck, dass bis zur neuerlichen Ankunft an diesem schrecklichen Ort, sich der Abgrund zur sanften Ebene und einem geradem Weg verwandelt haben möge - auch das - eine Hoffnung, die sich nicht erfüllen wird. Vielleicht kommt man dann ja auch an etwas anderer Stelle am Abgrund an und er scheint einem ganz verändert und neu, aber er wird trotzdem der selbe sein, nur leicht anders eben, wegen der Zeit die vergangen ist. Abgrund bleibt aber eben Abgrund.

Manche richten sich auch gut ein, da am Abgrund. Sie sitzen zitternd auf schmaler Kante, fühlen sich als ewiges Opfer des Abgrundes, als Pechvögel, als schwarze Schafe, als der ewige Verlierer. Da drängt es sich auf, dem Abgrund die Schuld und somit auch alle Macht zu übertragen. Aber der Abgrund an sich tut ja gar nichts, er ist genaugenommen einfach nur da! Er denkt ja nicht der Abgrund, er ist ja absichtslos, weil er ja genaugenommen nur ein Nichts ist, ein Nicht-Weg sozusagen - eben das Ende des bisherigen Weges, eine massive und nötige Korrektur der Richtung. Das "Nicht-Weg-Sein" ist ja nur Eigenschaft aber nie Absicht! Es ist auch keine Bosheit des Lebens! Dennoch mault man auf dieses Nichts ein und projiziert mit aller Phantasie derer man fähig ist, die wildesten Szenarien in die dunkle Tiefe. Damit kann man auch seine Lebenszeit verbringen, ganz ohne Zweifel - ob es aber wirklich Sinn macht, ist eine ganz andere Frage. So wird einem der Abgrund zum Feind. So personalisiert man ihn, denn das Nichts ist die beste Leinwand, auf die man den eigenen Film des ewigen Elends ganz prima aufspielen kann, wieder und wieder, ein halbes oder ganzes Leben lang.

Man fürchtet den Abgrund und, das ist das paradoxe daran, je mehr man ihn kennt um so mehr fürchtet man ihn! Es wird nicht besser, nur gewöhnlicher weil gewohnt, nur alltäglicher weil alle Tage, nur immerwährend weil dauernd. Da kommt man auch nicht so rasch auf rettende Ideen die Sinn machen würden. Da werden selbst die besten Ratschläge von aussen, vor allem die guten, also jene die Bewegung in die Sache brächten, gleich und ohne Denken in die Tiefe getreten. Da ist Hilfe schwierig, weil jener, der sich da ganz nahe dem Abgrund in seine Nische kauert, ja vor jeder Bewegung Angst hat - denn jede Bewegung könnte den Sturz zur Folge haben. Also krallt man sich an den Rand des Abgrundes, macht ihn sich unbewusst zum Lebensinhalt. Schnell ist man nicht mehr fähig sich zu erheben. Es schwindelt einen und raubt den Atem - und wehe da kommt jemand und hilft wohlwollend auf die Beine! Da muss man dagegen tun, weil man zu fallen glaubt! Lieber sich in die schmale, dunkle Kuhle schmiegen die man sich gegraben hat, als aufzustehen!

Dennoch gäbe es eine Lösung! Doch diese zu vermitteln ist oft leider nur allzu schwierig. Das kennen wir doch: man versucht zu helfen, man sieht sogar die Brücke die da über den Abgrund führen würde und ist sie vielleicht selbst bereits gegangen! Und diese Brücke ist gar nicht so weit entfernt! Manchmal ist sie so nahe, dass es einen schmerzt, da man das Gegenüber nicht zum Aufstehen zu bewegen imstande ist! Man zerrt den anderen hoch, aber seine Knie sind wie aus Wasser! Man greift unter die Arme, aber der andere macht sich unglaublich schwer und wehrt sich sogar, erkennt im Helfer fälschlicher Weise eine Gefahr, wettert und zetert gegen einen wie gegen einen schlimmen Feind! Man versucht mit aller Kraft des Argumentes zu stützen, doch der andere krallt sich in den Boden, macht sich schwer, lässt sich fallen, wieder und wieder, schmettert einem nur ein "nein!" entgegen und reibt einem Hände voller bewährter Ausreden in die Augen. Dabei wären es oft nur ein paar Schritte am Rande des Abgrundes entlang! Nur wenige Meter die es zu überwinden gälte, natürlich und verständlich den Abgrund an der Seite, klar auch beängstigend weil der Pfad so elend schmal ist! Oft sind es bloss wenige lächerliche Schritte bis zur Brücke die den Abgrund überspannt! Einmal nur aufstehen! Einmal nur sich erheben und sich umsehen um zu erkennen, dass die Landschaft über die man sein Leben lang wandert, voll von Abgründen ist und jeder Abgrund, jeder erzwungene Halt zwingend nötige Veränderung und Entwickluung bedeutet und jeder, wirklich jeder Abgrund seine ganz eigene Brücke hat! Auch die letzte Brücke ist ja da, die vom Jetzt zum Danach, von einem Leben ins andere, von Geburt zu Geburt!

Wenn man sich nur endlich erhebe, man würde bereits im Aufstehen erkennen, dass diese Übergänge wahre Chancen sind! Man würde die Werkzeuge, die alten, die guten und bewährten nutzen! Man würde mit Freude, ganz im Sinne gelebter Spiritualität die Arbeit an sich nicht scheuen! Man träte bewusst und freudig in jene heiligen Räume, welche die Brücken markieren! Die Schwitzhütten, die Rituale, all das was uns eine uns liebende Schöpfung an die Seite und ins Herz gelegt hat damit wir lernen, werden und sein dürfen, ist uns bereits gegeben! Und wie sehr muss eine schöpferische Kraft uns lieben, um uns einen Abgrund vor den Füssen aufzutun, damit wir nicht auf verbrauchtem Wege weiter fortschreiten! Wie gross muss diese Liebe sein um uns ein manchmal auch schmerzvolles oder erschreckendes "Halt!" voran zu stellen, damit wir uns weiter entwickeln und zu dem werden was wir an Seele und Herz bereits sind!

Also scheut die Abgründe nicht, weil sie auch Brücken haben! Scheut die Brücken nicht, weil sie uns in neues Land und Leben führen! Und glaubt nicht jenen, die behaupten das Leben selbst sei ein ewiger Abgrund, ein ewiger Fall mit einem tödlichen Aufschlag am Ende - es ist nicht wahr! Hört nicht auf, von diesen Brücken zu berichten! Hört nicht damit auf, jene auf die Beine zu bringen, die da voller Angst am Rande des Abgrundes kauern! Und hört vor allem nicht auf über Eure Brücken zu gehen - sie sind der Sinn, sie sind das Leben selbst!

herzlichst Georg