Reflex


Jeder hat so seine Reflexe. Ich hab die meinen, die Politik hat eben die ihren. Und einer dieser "politischen Reflexe" ist das absolute Fehlen der Fähigkeit des Eingeständnisses von Fehlern. Schon alleine der Versuch, von einem Politiker, ein klares "ja" oder "nein" zu bekommen wird fehlschlagen. Wie dann darauf hoffen, dass sich so ein Vertreter dieser Gattung, öffentlich zu einem Fehler bekennt? Nun, das muss echte Hoffnung sein, die einen darauf warten lässt. Erfüllt wird sie nie - enttäuscht dafür immer.


Ich erinner mich an meine unbeschwerte Kinderzeit. Unbeschwert war sie vor allem deswegen, weil die zu erwartenden Konsequenzen, egal was man angestellt hatte, ja vergleichsweise milde waren. Sie waren milde im Vergleich zum Lustegwinn den man hatte, als man über die verbotenen Mauer geklettert ist, oder etwas anderes getan hat, das streng unter Strafe gestanden war. Wenn es dann, nachdem die Tat bereits vollbracht war, zu Sanktionen kam, da lachte man im Inneren doch still vor sich hin und ertrug die Strafe in der Gewissheit, trotzdem der Held, der Pirat, der erfolgreiche Dieb gewesen zu sein. Die Kirschen waren schon geklaut und gegessen! Also war die Strafe leicht zu ertragen.


Und was haben wir geleugnet! Mit welcher inneren Überzeugungskraft! Wie waren wir sicher druchzukommen mit all den Gechichten! Der Hund hatte die Hausaufgaben gefressen, man war in die Torte gefallen, man ist gezwungen oder gar verzaubert worden und tat eben drum was man getan hat. Die Kekse waren Schuld und nicht die eigene Hand, die sie in den Mung verfrachtet hat. Oder aber es waren "die Anderen". Der Peter wars, die Claudia oder jede Menge John und Jane Doe´s , also irgendwelche Unbekannte, derer man nicht habhaft werden konnte, weil man ja nichts gesehen hatte und darum die Beschreibung mangelhaft geblieben war.


Da war dieser Bahndamm. Und es war Hochsommer. Das Gras war dürr. Wir sind in ihm gelegen, den Duft von Ferien in der Nase, ganz weit weg von allem Zwang und aller Forderung. Und der Hubert, ja der hatte dieses Feuerzeug. Da haben wir begonnen, aus freien Stücken und ganz ohne Zwang von aussen, so kleine, punktuelle Feuerchen zu entfachen und wieder zu löschen. Das Gras war ja dankbar im Anbrennen und schnell war es auch! Ganz feine, erst glühende, dann nur noch schwarze Fädchen waren das am Ende. Das war toll anzusehen, wie da das Feuer um sich gegriffen hat, ganz rund und faszinierend von selbst, wei ein lebendiges Wesen.


Dann aber kam der Wind. Eine leichte warme Brise. Und was vorher nur noch matte Glut gewesen war, erstand von neuem, brannte lichterloh mit einem mal und frass sich nach vorne und nach hinten und nach überall den Bahndamm hoch! Oh ja, wir haben es noch versucht zu löschen! Wir sind drauf getreten und drauf rumgetrampelt und gehüpft und machten es noch schlimmer damit. Und irgendwann waren die Feuerchen mehr als unsere vier dürren Kinderbeine! Das Wort "Eigendynamik" war uns damals noch fremd - aber das war es was es war. Es brannte dass es einem übel werden konnte. Und entsezt taten wir dann das einzige das uns noch geblieben war: Wir rannten davon! Ohne zurück zu blicken, aber im Bewusstsein, dass das alles auf unsere Kappe ging! Wir waren geschockt, weil das Feuer nicht zu stoppen gewesen war, nicht mal duch uns, obwohl wir es ja selbst gewesen waren, die es begonnen hatten! Ich erinnere mich des Gefühls. Heute noch. Eine Mischung aus Schuld und Angst. Wie etwas, das einen überholt hat. So als ob man seine Unschuld verloren hätte und einem dafür die Schuld vorauseilte. Egal wohin man ging, sie war schon da und mit ihr das schlechteste Gewissen, das man sich hat vorstellen können.


Wir haben uns dann daheim verkrochen. Jeder bei sich zu Hause. Und jeder hat so getan, als ob es den Sommer, den Bahndamm und das Feuer gar nicht gäbe. Später hörten wir die Sirenen heulen - oder wir haben es uns vielleicht auch nur eingebildet. Man hat vielleicht auch darüber gesprochen, über den alles vernichtenden Brand, beim Abendessen oder sonst wo. Und ich und der Hubert, wir sind wohl da gesessen, ganz still und mit gesenkten Köpfen. Ausgestrahlt haben wir vermutlich so etwas wie: "ich sags gleich, ich wars nicht!!" was einem absoluten Schuldeingeständnis gleichgekommen ist.


Ich weiss auch nicht mehr, ob wir aufgeflogen sind. Aber eines weiss ich mit Sicherheit: Ich hätte es nie zugegeben! Niemals! Später habe ich dann erfahren, dass man das Gras am Bahndamm, ohnehin immer mit Absicht abgebrannt hat. Das war weniger Arbeit als es zu mähen. Trotzdem blieb die Schuld und mehr noch: Dieses elende Gefühl, etwas losgetreten zu haben, das man nicht mehr zu stoppen oder zu kontrollieren imstande gewesen war, wurde einem zur ewig existenten Möglichkeit, genau so wie die Leugnung von allem das einem engtlitten war. Was blieb war die Angst vor der eigenen Fehlbarkeit und die Gewissheit, dass man das Leben nicht wirklich kontrollieren kann. Man kann oft nur Feuer an die Lunte legen und dann das Beste hoffen bzw. schneller rennen als der Rest.


Ich denke dass uns dieser Reflex der Verleugnung und Flucht geblieben ist, dem einen mehr, dem anderen weniger. Ich denke dass dieser Reflex, beim Politiker besonders stark ausgebaut ist und mehr als nur gut funktioniert. Ich denke dass sie, die Politiker, wohl wissen was sie tun. Ich denke aber auch, dass es ein grosser Unterschied ist, ob man in kindlichem Leichtsinn Bahndämme in Brand setzt, oder die ganze Welt entzündet! Und ich denke, dass diese kindliche Feigheit, die reflexartige Verleugnug eigener Verantwortlichkeit samt Wegrennen, wohl einem Kinde zusteht, nicht aber jemandem, der einmal geschworen hat, sein Bestes für uns, das Volk zu geben!


In diesem Sinne, ihr Mächtigen: Wir wissen um die Flächenbrände die ihr entzündet und wir wissen um Eure Reflexe! Glaubt aber nicht, dass ihr straffrei geht, nur weil Ihr Euch wie Kinder benehmt! Glaubt nicht dass Euch dieser Reflex aus Kindertagen, auf Dauer wird retten können! Vertraut auch nicht darauf, dass wir einfach so vergessen. Denn es geht nicht um Nachbars Kirschen oder trockenes Gras. Es geht um alles. Es geht um UNS!


Also, meine Damen und Herren Politiker, ich weiss wie Sie sich fühlen. Ich weiss auch, wie Sie sich fürchten, aber hören Sie endlich auf damit - Sie sind erwachsen!!!

mfg

Ich, ein Bürger