Notausstieg


"Wer sich den Gesetzen nicht fügen will, muss die Gegend verlassen, wo sie gelten." (Johann Wolfgang von Goethe)

Es ist Zeit zu gehen. Besser oder intelligenter wird es wohl nimmer werden. Und wenn man es satt hat, in dem ganzen Wahn nach Sinn zu suchen, dann sucht man besser nach einem Notausstieg. Man muss sich nur damit abfinden, dass das Flugzeug, in das man gezwungen worden ist, nicht unbedingt von Geistesriesen gelenkt wird. Natürlich kann der Pilot auch nichts dafür. Der hat ja nie damit gerechnet, dass die Maschine irgendwann einmal ganz real und wirklich abheben wird! Zumindest hat er nicht mit einem Sturm gerechnet, mit Bewegung, oder damit dass irgendwas das an den Tragflächen rüttelt! Mit gutem Wetter haben sie gerechnet und damit am Boden zu bleiben. Alle haben so gedacht und gehofft. Vom Funker, der keinerlei Ahnung hat, wie man das Funkegerät bedient über den Co-Piloten, der eher der Bordbar zugetan ist als dem Steuer, bis hin zum Captain, der eigentlich nur damit beschäftigt war, in seiner neuen Uniform gute Figur zu machen und mit seiner Position zu prahlen.


Jetzt ist mit einem mal Feuer am Dach, auch bei den Passagieren. Bisher stand man ja recht ruhig auf dem Rollfeld rum, bzw. man ist ein wenig nach vor und dann wieder zurück gerollt, das wars auch schon mit "Flug", also mit "Leben". Irgendwie ist man in diese Maschine geraten und irgendwann waren die Türen zu und man dachte auch gar nicht mehr an das Draussen. Weil das ja alles ganz neu und ganz aufregend gewesen war, am Anfang zumindest und verstärkt durchs Kollektiv.


Nachdem man dann nach langer Sucherei (oft eine ganze Jugend lang) endlich seinen Platz gefunden hatte, war man mal damit beschäftigt sich einzurichten, bequem natürlich. Man hat ein wenig mit seinem Sitznachbarn gekämpft und mit den Ellenbogen gestossen, um ein wenig mehr Raum zu ergattern. Und wenn der liebe Nachbar, sich mal etwas bewegt hat, oder gar Schwäche zeigte, oder kurz mal weg gemusst hat, so ist man an mehr Raum gekommen und den hat man auch nimmer hergegeben, ganz egal was der Nachbar dann davon gehalten hat. Man hat sich dann einfach taub gestellt, oder schlafend oder beides. Bequem wollte man es haben, am Fenster, die anderen waren einem da egal. Man hat eben verteidigt, was man zuvor erstritten hatte. Bis aufs Blut. Und dann hat man elend damit angegeben, vor all Jenen, die es schlechter ewischt haben und man hat dabei vergessen, wie elend man selbst einmal war und wie man sich und alle verraten hat, nur um jetzt so protzen zu können! Man war so mit Kampf und Protz beschäftigt, dass keiner so recht mitbekommen hat wie die Maschine, mitsamt der ganzen Menscheit drin abgehoben hat. Zielflughafen: Irgendwo in der Zukunft - weiter, reicher, schöner, teurer, besser.


Dann der Kampf mit der Tüte und den Nüssen! Man ist ja versorgt worden, während des unbemerkten Steigfluges. Unbemerkt war er ja von Allen. Auch die Flugbegleiter/innen waren, wie der Rest der Crew, nicht informiert über das Abheben. Sie bemerkten es nicht, denn sie waren damit beschäftigt, uns schulmeisternd die kleine, feine Welt des Flugzeuges zu erklären. Man hat uns aufgeklärt wohin und wohin nicht und wann. Man hat uns vor diesem und jenem gewarnt, mit Nachdruck, aber man hat uns auch parallel dazu versichert, dass nichts passieren kann, dass man alles ganz genau unter Kontrolle habe. Alleine schon wenn man hört, dass etwas "unter Kontrolle sei" kann man von einer nahenden Katastrophe ausgehen.


So mancher der Passagiere, wäre natürlich gerne einer der Flugbegleiter gewesen, der Macht wegen und der Geheimnisse wegen (wo schlafen die eigentlich?), oder einfach deswegen, weil die feschen Damen und Herren die Schlüssel zu den Fressalien und Getränken in der Tasche haben. Doch leider sind diese Stellen nur sehr begrenzt vorhanden. Macht lässt sich nicht so oft teilen, sie schwindet ja bei jeder Teilung - darum die Begrenzung. Man hat sich von alldem abgelenkt, indem man sich eben plagte diese verdammte Tüte mit den vier oder fünf Nüssen aufzubekommen. Manchmal waren es auch vier oder fünf Brezeln. Egal, Hauptsache man war beschäftigt mit sich und seiner kleinen, popeliegen Welt aus Tütchen, Nüssen oder Brezeln, miesen Köpfhörern, schlechtem Programm, zu wenig Raum weil raumgreifende Nachbarn, dem Neid auf die erste Klasse, dem auswendiglernen der Fluchtwege, oder dem Versuch sein Leben, von Anfang an in grossen Teilen, blind und schlafend hinter sich zu bringen. So hat man übersehen, dass es nach oben gegangen ist - mitten hinein in ein epochales Unwetter. Und auch die Crew hat es gar nicht mitbekommen, weil die war damit beschäftigt sich in den nigelnagelneuen Uniformen zu gefallen , die eigene Position im "team" zu behaupten und von Zeit zu Zeit sinnlose Stehsätze über den Bordfunkt loszulassen.


So, jetzt haben wir den Salat. Wir donnern auf zehntausend Metern Höhe und mit knapp eintausend Kilometern pro Stunde durch einen Hurricane. Es blitzt und donnert, dass einem die Nasenhaare grau werden. Nacheinander fallen die Triebwerke aus, der Hydraulikdruck ab und die Führungskräfte um. In eine Tragfläche hat der Blitz eingeschlagen und sie brennt lichterloh, während sich auf der anderen Seite das Fahrwerk zu verabschieden droht. Das heisst, dass mit sanfter Landung wohl eher nicht mehr zu rechnen ist. Nun reisst auch das Höhenruder ab und verschwindet, noch einmal kurz aufblitzend, im Tosen des Sturmes. Es geht abwärts. Vorne im Cockpit herrscht bereits das Gegenteil von Besonnenheit: wilde Panik. Die Frage nach der Schuld geht um, aber deren Beantwortung ist Sturm und Maschine egal. Man kämpft um Positionen, die man ums Verrecken nicht mehr aufgeben will.Abwechselnd kommen vom Captain, dem Copiloten , dem Funker und den nunmehrigen Abtsurzbegleitern verworrene Durchsagen. Die Passagiere bekommen den Kampf ums Micro mitlerweile ungefiltert mit. Trotzdem hört man gebannt zu. Trotzdem befolgt man aus reiner Angst die Wirrnisse. Man sagt uns dass wir uns anschnallen sollen, dann wieder nicht. Es heisst "Kopf zwischen die Knie" - dann wieder Entwarnung. Man weist uns an, irgendwelche Zollpapiere auszufüllen um dann Schiffchen draus zu falten, die dann benotent werden, oder auch nicht. Wir sollen uns nackt machen, am besten transparent sein, weil uns das retten könnte. Man teilt die Bordtoiletten bestimmten Zeiten, Farben und Geschlechtern zu. Passagiere werden zum Bewachen der Seifenspender abkommandiert. Plastikbecher werden rationiert. Tomatensaft zu trinken wird Pflicht. Verweigerern droht echtes Ungemach. Lynchjustiz. Ordnung die das Chaos hervorbringt. Denunziantentum. Wütender Mob. Verlust von relativer Freiheit, Recht und Würde. Denkverlust. Fühlverlust.


Dazwischen werden noch mehr Tütchen mit Nüssen oder Brezeln serviert. Wahnsinnige Umsätze macht die Dame mit dem duty-free-Wägelchen, denn was es in der Krise braucht ist vor allem Parfum und dreieckige, schweizer Schokolade.Manche der Passagiere geraten in Panik. Sie tragen alles was sie finden können am Leib: Kotztüten, Sauerstoffmasken, Schwimmwesten, Kopfhörer, dünne Decken und das Hochglanzmagazin der Fluglinie. Aus ihm beten sie den Anderen vor wie aus einer Bibel. Unterschiedliche Deutungen der Texte führen bald zu ersten Spaltungen. In der Holzklasse bricht ein Glaubenskrieg aus. Zwei Messiasse sind schon verbraucht. Sektenführer und Prediger dringen bis in die Bordküche vor.Parallel entbrennt ein Kampf um die besten Plätze. Die Einen wollen nach vorne in die Buisnessclass vordringen und stürmen, ein lautes "lang lebe die Revolution!!" auf den Lippen, bereits gegen den ersten Trennvorhang. Man singt "die Internationale" und wechselt dann zu Liedgut mit eher nationalistischem Inhalt. Das führt dazu, dass Angehörige bestimmter Minderheiten übler Erinnerungen wegen, Schutzund Zuflucht in freien Gepäckfächern suchen. Wieder Andere trommeln rhythmisch an die Cockpit-Tür, fordern das Ende des Captains samt seiner Crew und ein Umschalten auf den ewigen Autopilot. Man flöge am besten einfach mit Herz. Dass die Maschine brennt wird ignoriert. Einige Wenige machen sich gar auf, den Gepäckraum zu suchen, um ihn zu plündern. Manche beten mümelnd vor sich hin. Andere schlafen betrunken am Boden, oder sind schon tot, oder beides.


Der Maschine ist das alles natürlich ganz egal. Sie schmiert entspannt ab, weil sie ohnehin niemand lenkt und sie kein Herz oder Hirn hat. Sie ist blosse Funktion. Sie ist wozu auch immer sie gemacht, gebraucht oder missbraucht wird. Ihre Bestimmung ist der crash - ihre Natur ist der Absturz, das Wrack, ihre Heimat die Erde, denn nichts fliegt ewig, weil der Flug ein erzwungener ist.Pilot, Copilot und Funker raufen sich indes um goldene Uniformteile, der Rest ist reines Tohuwabohu und alles was aus diesem bis zu den Passagieren kommt, ist Kokolores. Jetzt ist endlich die zweite Turbine ausgefallen und auch die andere Tragfläche steht in rauchenden Flammen. Das Fahrwerk ist ganz ab, das Seitenruder ebenso. Der Sturm beisst das Blech aus den Tragflächen. Schluss mit Auftrieb. Der neue Kurs ist klar: abwärts. Das neue Ziel auch: unten.


Draussen aber ist es ruhig, viel ruhiger als drinnen wo gekämpft, gaklagt, gebrüllt wird. Draussen ist eigentlich alles gut. Man muss nur durch das Fenster sehen um es zu erkennen. Ich dränge mich langsam bis zum Notausstig durch. Mein Gepäck suche ich nicht, es war ja ohnehin nicht viel, Handgepäck eben und die paar Textilien, die kann ich mir immer wieder besorgen. Also was solls. Was ich gelesen hab über das Flugzeug ist, wie man den Notausstieg aufmacht. Also was man tun muss, wenn das Chaos drinnen in keinem Verhältnis zu den äusseren, den wahren Umständen, mehr steht. Natürlich gibts da Widerstand, aber irgendwann geht die Türe auf. Frische Luft tut gut.


Ach ja, meinen Fallschirm hab ich immer mit dabei, nur habe ich bei all dem Gedröns beinahe vergessen, dass er immer auf meinem Rücken ist! Wie gut dass ich mich an ihn erinnert habe! Er ist gar nicht auffällig. Er ist aus Spiritualität gemacht und aus Haltung. Der hält echt viel aus. Die Reissleine ist aus Sinn hergestellt und ganz leicht zu fassen, das ist gut im Notfall, denn das muss dann flott gehen! Ich schenke mir den Blick zurück ins Chaos und trete einen Schritt vor. Schnell lässt mich das Flugzeug los (oder ich es) Der Wind fängt mich unvermutet milde auf. Ich ziehe an der Reissleine. Ein sanfter Ruck durchfährt mich, das ist gut, das gibt Sicherheit und Gewissheit. Dann schwebe ich weg vom Flugzeug und alles ist gut. Hey! Da sind noch Andere mit ihren Fallschirmen! Wir winken uns zu, begegnen einander freudig. Wir halten uns an den Händen ohne zu klammern, schweben gemeinsam neuen Zielen zu - und das in tiefer Verbundenheit.Ich gehe meinen Weg.


Wir sehen uns wenn er ein gemeinsamer ist.


Also bis bald - und keine Angst, denn alles wird gut


herzlichst

Georg