Mit Abstand


Gestern: Ich sitze hier an meinem Gründerzeit-Schreibtisch (ich bin kein Ikea-Typ) mit Blick auf die Sonne die gerade eben warm scheint, die heute aber wie zum Trotz doch kühl ist. Es ist einer jener klimatisch seltsamen Tage, mehr hell als warm, an denen das Bild vom Draussen nicht mit der Jahreszeit oder der gewollten "Soll-Temperatur" zusammenpassen will. Mir fühlt es sich wie ein verirrter Herbst an, wohlwissend dass es morgen anders sein wird. Es wird warm werden, dann heiss und der Sommer wird mich umarmen wie ein lange vermisster Freund.

Meine Gedanken sind ähnlich. Das was sich da denkt hinter meiner kühlen Stirn, passt kaum zu dem wie es im Aussen zu sein versucht. Ich kann mich an nichts im draussen halten, schon gar nicht an eine Schlagzeile. Es scheint als ob die Welt, trotz der heute herrschenden Kühle, damit beschäftigt ist zu schmelzen. Alles wankt. Die Vorschriften die man auferlegt bekommen hat, sind wie ein kalbender Gletscher: Immer noch da und irgendwie mächtig, aber sich doch stetig bewegend, fliessend, zerfurcht und am Rande abbrechend! Unaufhaltsam knirscht es im Eis. Das Ende des Gletschers ist ja nahe, weil die Natur des Eises eigentlich das fliessende, strömende Wasser und die Erstarrung nur ein momentaner Zustand ist. Nichts kann lange wider seine Natur sein ohne dabei zu zerbrechen! Nichts! Das gibt zumindest Jenen Hoffnung, die im Eis nicht leben wollen oder können! Das Eis ist wie ein erstarrter Glaube - das Wasser aber ist freier Wille, direkte Erfahrung und ewige Veränderung! Die Angst des Eises und seiner Gläubigen ist und war immer schon das Tauwetter.

Die Hunde bellen. Meine Frau ist im Garten. Ich sitze hier und denke nach oder vor und schreibe nieder was kommt. Was da kommt ist gut. Also Gedankengut. "Gut" in dem Sinne, da sich mir eröffnet, was mich der Gletscher, auf den man auch mich gezwungen hat, zu lehren imstande ist. Ausser dass man in seinen Spalten verunglücken kann, dass das Eis glatt ist und dass man in ihm auf lange gefangen sein kann, lehrt er mich Erinnerung. Nein, nicht jener wehmütig-sentimentale Rückblick, indem man erstarrt wie Lots Frau, weil man, obwohl vom Engel ausdrücklich gewarnt, aus Mangel am Jetzt zurück in sein Verderben blickt. Es ist eine Erinnerung daran, dass zu anderen Zeiten, wenn auch unter anderen Voraussetzungen und durch andere Veranlassung, uns manches ganz natürlich war. Das könnte es wieder sein.

Der Abstand den man halten soll zum Beispiel. Man kann ihn beibehalten. Als "Respektsabstand", als langsame Annäherung, als einen Moment des sich zunächst einmal gegenseitigen Wahrnehmens, noch bevor man aufeinander losstürmt um sich zu umarmen, um sich zu bekämpfen oder um sich letztlich am Sinn zu verfehlen! Das tut schon gut, dieser "Atemzug des Seins". Dieses "langsam". Dieses "ankommen". Das ist beides von hohem Wert, also die Zeit und der Raum den man einander schenkt und die Qualität gegenseitiger Wahrnehmung die so entstehen darf, ist eigentlich ganz unbezahlbar!Es ist der Raum den es nötigt, damit der Staub der Missverständnisse und Vorurteile sich setzen kann! Es ist der Weg den das Herz und der Verstand brauchen um sich zu vereinen! Es ist jene Distanz die nötig ist, damit Bewegung auslaufen kann, damit alles sich legen darf, damit das Herz und das Hirn zur Ruhe finden! Es ist ein Innehalten, ein "ganz da sein" noch bevor das erste Wort den Mund verlässt. Es ist der wichtige, alles zuzsammenführende Moment vor dem erhofften Handschlag, vor der Umarmung oder noch vor dem lange und heiss ersehnten ersten Kuss! Es ist die Pause die Musik vom Lärm unterscheidet und Rhythmen und Takte erst möglich macht! Daran tut es gut erinnert zu sein!

Jeder Weg ist immer Vorbereitung, egal ob in Raum oder Zeit! So wird Distanz zu echter Nähe und es entsteht fühlbare Qualität, weil die einenader zum Geschenk gemachten Räume sich ja doppeln! Das tut der Unmittelbarkeit keinerlei Abbruch! Das schadet auch nicht der Spontanität oder der Intimität! Es bremst nur den Übereifer ein, das Gewaltsame, das Übergriffige! Und vielleicht ist es genau der Raum und die Zeit die es braucht, damit "Vorfreude" sich aufbauen kann!

Dieser so entstandene Raum und die einander geschenkte Zeit samt Weg, lassen sich wunderbar füllen! Mit Liebe oder auch mit Klarheit! Mit Ruhe oder mit freudiger Erwartung und mit gegenseitigem Respekt! So würden wir diese Zeiträume langsamer durchschreiten auf dem Weg zueinander und dabei Qualität und seelische Fülle gewinnen! Die Begegnung wäre liebevoller, klarer, freudiger und respektvoller! Wir gewännen Zeit um uns zu wirklich zu begegnen! Wir vergäßen auf diesem Weg auch das vorgefasste Wort und sprächen dann aus der Tiefe des Herzens! Und in eben dieser Tiefe würden wir auch gehört und verstanden sein!

Mir gefällt dieser Gedanke weil er gut ist. Ich blicke nach draussen. Die Sonne ist irgendwo hinter den Wolken. Ich weiss dass sie nicht fort ist. Ich weiss dass das nur momentaner Abstand ist. Morgen wird sie wieder scheinen oder am Tag darauf! Es ist nur eine Frage der Zeit und des Raumes und wie ich selbst dazu stehe! Es liegt an mir den Raum zu füllen. Ich fülle ihn mit wärmender Vorfreude. Der Gletscher schmilzt. Das Leben ist in Bewegung und ich mit ihm!

bis bald

herzlichst

Georg